Das Sterbewerk*_Episode #004 Teil 1

“Aus dem Leben eines Taugewas –
Die un.heimlichen Geschichten des Gordon Blö”

Nach der Buchmesse ist vor der Buchmesse – aber nur, wenn es in den nächsten Monaten Autoren und Schriftsteller gibt, die lesenswerte Literatur zu Papier bringen. Sicher kein einfaches Unterfangen. Der Startschuss jedenfalls ist erfolgt, die Köpfe rauchen und die Finger jucken. Doch, kaum glaubt man es, die unmöglichsten Tatsachenstories schreibt das Leben selbst. Einfach nur hinsehen.

Tags sind die Menschen im Supermarkt oder zum Kaffeekränzchen, nachts sterben sie.
Sie nehmen keine Rücksicht auf Angehörige, Ärzte und Behörden. Auf Bestatter schon gar nicht, die kennt sowieso niemand.
Trotzdem kommt eine kleine Maschinerie in Gang, wenn ein Mensch lange Zeit gelebt hat.
Gordon hat Bereitschaft. Dazu gehört zu Hause oder in der Nähe bleiben; Telefon immer im Auge behalten, Akkus geladen, keine laute Musik hören, keinen Alkohol trinken, die Kumpels allein zum Fußball gehen lassen, Dienstkleidung geschniegelt und gebügelt bereithalten … also alles, was ein ’normaler‘ Mensch überhaupt nicht beachtet. Das ist Bereitschaft.
Gordon hat Bereitschaft.

Eine leicht rötliche Abenddämmerung zieht über den Horizont in die Stadt. Im aktuellen Tatort geht es einem Bestatter an den Kragen. Gott sei Dank eine Wiederholung; der Mann ist unschuldig. Gordon kennt die Folge. Sie lief vor 6 Jahren in der AhErrDeh.
Noch bevor er zum nächsten Kanal zappen kann, klingelt doch, fast wie auf Zuruf, das Diensthändi. „Wir müssen los, Abholung“ tönt Mirko am anderen Ende. Auch die Feuerwehr hat ähnliche Stichworte, Diskussion zwecklos.
Keine 10 Minuten später treffen sich beide auf dem Parkplatz vor Gordons Haus und durch enge, nur Insidern bekannte Gassen düsen sie zum aktuellen Tatort. Der ist keine Jahre alt. Oma Schuster dagegen hat einige Dutzend auf dem Buckel. Offenbar genug.
Die diensthabende Schwester im Hospiz empfängt uns freundlich wie immer. Man merkt ihr nie an, ob die Schicksale ihrer Bewohner sie mitnehmen oder ob es tatsächlich ein Job wie jeder andere ist. Das Sterben ist ihr Alltag und ihre Allnacht.

Während wir uns auf leisen Sohlen zum Zimmer von Oma Schuster pirschen – die anderen Bewohner im Haus sind zum Teil noch wach und sollen die beiden Bestatter eher nicht bemerken – hat Schwester Jana die Papiere bereit gelegt. Vorbildlich, alles dabei, Ausweise, Arztbulletin … nichts bleibt zurück. Auch die Handgriffe im Oma Schusters Zimmer sitzen, wir sind ein eingespieltes Team und bereits nach 6 Minuten wieder auf dem Weg zum Fahrstuhl. Wir wollen so schnell wie möglich in die Zentrale zurück. Das Wetter geht uns aufs Gemüt, es sind gute Zeiten für den Gevatter mit der Sense.

Der Fahrstuhl kommt nicht.
Schwester Jana zuckt auch nur mit den Schultern und nimmt die Treppe, um zu sehen, was los ist.
Noch auf den Stufen kann sie das Gedränge im Eingangsbereich sehen, besser, sie hört es. Der Krach tönt bis unters Dach, wo wir wahrscheinlich noch länger umsonst warten werden. Oma Schuster hatte eine der begehrten Dachgeschosswohnungen. Man kann von da aus die Stadt überblicken und den Rettungshubschrauber starten und landen sehen.
Im Erdgeschoss also ist der reinste Tumult. Bewohner und Neugierige von der Straße drängen um einen jungen Mann, der eine ältere Frau untergehakt hat und nach einem Arzt ruft.
Als Jana näher kommt, bemerkt sie, dass die Frau eine dunkle Brille trägt und einen weißen Stock mit der rechten Hand fuchtelt. Beides ein gesichertes Anzeichen für fortgeschrittene Sehschwäche, wenn nicht gar eingetretenen Sehverlust.
Die Brille scheint zerbrochen, zumindest sitzt sie erheblich schief, das Gesicht ist blutverschmiert.
Der junge Begleiter gestikuliert ebenfalls wie wild, allerdings ohne Stock. Es ist zunächst nicht klar, ob er mit dem Zustand der Frau etwas zu tun hat oder ihr nur helfen will. Seine Gestik lässt beide Schlüsse zu.
Dr. Richter hat sich mittlerweile unter die bedrohlich anwachsende Meute gemischt, versucht sich Betätigungsfreiheit zu schaffen und weist einige der Leute an, endlich wieder dahin zu gehen, wo sie hergekommen sind. Er hat die Lage unter Kontrolle, kommt auch ohne Publikum aus. Die Menschen haben wohl ihre Zweifel daran, jedenfalls werden es immer mehr und der Fahrstuhl bekommt keine Chance, das längst gedrückte 5. Obergeschoss anzufahren.
Egal. Wir kämen da unten sowieso nicht raus. Im Gegenteil.

Nach weitern 10 Minuten ist die Frau verbunden, der Begleiter beruhigt, der Zufluss an Menschenmaterial gestoppt.
Wir wollen schon aufatmen, als unüberhörbar eine mit Blaulicht kombinierte Sirene an unsere empfindlichen Ohren dringt.
Das nächste Unheil, wir ahnen es.
Der blauweiß-lackierte Golf hält ebenfalls vor dem Haus, zwei Beamte verschaffen sich eine Gasse und bevor irgendjemand erfährt, warum jetzt auch noch die Polizei anrückt, haben sich die Uniformierten zum Arzt, der Verletzten und dem Gestikulierenden durchgeschlagen. Er hat sie gerufen. Über 110.

Das Schwesternzimmer wird kurzerhand zum Besprechungsraum, Aussagen werden aufgenommen und Zeugen gesucht.
Wir sind da außen vor.
Weil die Zimmertür vorsorglich geschlossen wurde, gibt es auch nichts mehr zu gaffen, die Leute verflüchtigen sich wie Alkohol beim Kochen, der Fahrstuhl bekommt Beinfreiheit und wir walten unseres Amtes.
Oma Schuster ist endlich gut gesichert im Gardinen-Benz verfrachtet, Mirko und Gordon wollen gerade einsteigen. Da bemerken Sie eine von frischem Schnee nur wenig überdeckte Blutspur am rechten Kotflügel. Quer über den Fußweg, hin zum Eingang ins Hospiz.
Noch ehe sie entscheiden, ob sie zurückgehen oder losfahren kommt einer der dunkelblau-gekleideten Beamten und winkt höflich aber bestimmt; nicht abfahren, herkommen!

Die notdürftig verarztete Frau hat ausgesagt, sie sei angefahren, auf dem eisglatten Fußweg dann ausgerutscht und mit dem Kopf gegen das Fahrzeug geschleudert worden. Der junge Mann an ihrer Seite habe sie begleitet, es ist ihr Sohn.
Jetzt sind wir nicht mehr außen vor.

Fortsetzung folgt …

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